Interview mit Prof. Dr. Ling Feng, Neurochirurgin und stellvertretende Direktorin des China-INI in Peking.
ZEISS Beyond Talks

Interview mit Prof. Dr. Ling Feng, Neurochirurgin und stellvertretende Direktorin des China-INI in Peking.1

Prof. Dr. Ling Feng ist eine der führenden Neurochirurginnen Chinas und stellvertretende Direktorin des China International Neuroscience Institute (China-INI) in Peking. In ihrem von der Wissenschaft geprägten Fachbereich ist die Fähigkeit zur Empathie für sie immer noch eine Schlüsselkompetenz.

Seit über 175 Jahren stellen sich die Menschen bei ZEISS die Frage: Wie können wir die Grenzen der Vorstellungskraft herausfordern? Diese Vision war für ZEISS der Anlass, in der Gesprächsreihe ZEISS Beyond Talks den Austausch mit Vordenkern und führenden Intellektuellen aus der ganzen Welt zu suchen und mit ihnen über ihre Arbeit, ihre Visionen, ihre Leidenschaften und aktuelle Fragen im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung unserer Welt zu sprechen.

  • Ganzes Interview (11:25 Min.)

Sie sind schon seit langem im Bereich der Neurowissenschaften tätig. Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihren Werdegang.

Ich trat 1968 in die Armee ein und wurde zur Arbeit als Pflegehelferin in einem Krankenhaus eingeteilt. Meine Aufgaben waren es, die Patienten zu füttern und zu waschen und die Stationen und Toiletten zu putzen. In den darauffolgenden zwei Jahren erlebte ich, wie Menschen nach einem Trauma oder einer Operation unter Schmerzen litten. Ich wollte ihnen helfen, aber da ich keine Ärztin war, konnte ich nur bedingt etwas tun. Das hat mir sehr zu schaffen gemacht.

Zusammen mit den anderen Pflegehelferinnen erhielt ich einen Grundkurs in Anatomie. Das hat mich motiviert, mehr zu lernen, und zwei Jahre später wurde ich für eine medizinische Hochschule ausgewählt. Das war eine riesige Chance für mich. Ich habe sehr fleißig studiert – und einen Abschluss mit Auszeichnung gemacht.

In meiner ersten praktischen Ausbildung im Krankenhaus habe ich viele verschiedene Bereiche durchlaufen, unter anderem Kinderheilkunde, Orthopädie und die Behandlung von Verbrennungen. Zum Schluss war ich in der Neurochirurgie, wo ich einen hervorragenden Betreuer hatte. Er sagte mir, dass es drei Kriterien gebe, um eine erfolgreiche Neurochirurgin zu werden: Fleiß, Aufopferung und zwei gute Hände. Nach sechs Monaten in seiner Abteilung war er überzeugt, dass ich alle drei Eigenschaften hätte, und so empfahl er mir, Neurochirurgin zu werden.

Warum ist das China-INI auf dem Gebiet der Neurowissenschaften so wichtig?

Das China-INI ist eines der drei führenden Institute für Neurowissenschaften in China. Hier arbeiten über 80 Neurochirurginnen und -chirurgen, die sich auf acht Teilbereiche der Neurowissenschaften spezialisiert haben und pro Jahr etwa 10.000 operative Eingriffe durchführen. Wir haben Betten für 400 Patienten.

Die Gründung des Instituts ist wahrscheinlich die größte Leistung in meinem Leben. Die offizielle Eröffnung im November 2016 war das Ergebnis von mehr als zehn Jahren Arbeit. Damit ist ein Traum von mir und vielen anderen Neurochirurginnen und -chirurgen wahr geworden. Wir können alle unter einem Dach zusammenarbeiten und gemeinsam die besten Lösungen für unsere Patienten finden.

Das Gebäude selbst – das der Form eines menschlichen Gehirns ähnelt – ist dem des deutschen International Neuroscience Institute in Hannover nachempfunden.

  • Prof. Dr. Ling Feng, Neurochirurgin und stellvertretende Direktorin des China-INI in Peking
  • Prof. Dr. Ling Feng, Neurochirurgin und stellvertretende Direktorin des China-INI in Peking

Was sollten die Menschen über die emotionalen und physischen Herausforderungen Ihrer Arbeit wissen?

Jeden Morgen schaue ich mir als Erstes die Berichte von Patienten an, die sich in einem ernsten Zustand befinden. Am China-INI führen wir täglich etwa 60 operative Eingriffe durch – viele davon sind hochkompliziert. Die Arbeit geht mir wirklich ans Herz, denn manche Patienten sprechen gut auf die Operation an, andere weniger.

Das Schönste an meiner Arbeit ist es, wenn ein Patient wieder gesund wird, besonders wenn er sehr krank war und die OP ihm wirklich geholfen hat. Im Laufe meiner Karriere habe ich sehr viele Erfolge erlebt, aber auch einige sehr schwierige Situationen.

Vor 20 Jahren habe ich zum Beispiel ein zwei Monate altes Baby behandelt, das mit einer Wirbelsäulenfehlbildung zur Welt gekommen war. Diese war so kompliziert, dass niemand das Baby operieren wollte. Die Mutter bat mich aber, es trotzdem zu versuchen. Die Operation war erfolgreich und erst kürzlich habe ich erfahren, dass das kleine Kind von damals – mittlerweile natürlich erwachsen – an einer Quizsendung im Fernsehen teilgenommen hat, bei der der klügste Teilnehmer gewinnt. Das hat mich unheimlich gefreut.

Leider gab es aber im Lauf der Jahre aber auch traurige Geschichten. Ebenfalls vor 20 Jahren hatten wir einen Patienten, der schreckliche Schmerzen im Gesicht aufgrund eines Problems mit dem Nervus trigeminus hatte. Das ist der größte der zwölf Hirnnerven. Ich habe die Operation durchgeführt, aber der Patient ist leider danach verstorben. Das war natürlich schrecklich und hat mich sehr belastet. Ich konnte nachts nicht schlafen und stellte meine Fähigkeiten als Neurochirurgin infrage. Wie konnte ich mir jemals wieder eine Operation zutrauen?

Erst die spirituelle Hilfe, die ich in einem Tempel erhielt, hat mir die Kraft gegeben, meine Arbeit fortzusetzen. In diesem Fachgebiet der Medizin muss man wirklich mit dem Herzen dabei sein. Und wenn einmal etwas schiefläuft, muss man trotzdem anerkennen, dass man sein Bestes für den Patienten getan hat.

Prof. Dr. Ling Feng, Neurochirurgin und stellvertretende Direktorin des China-INI in Peking

In diesem Fachgebiet der Medizin muss man wirklich mit dem Herzen dabei sein. Und wenn einmal etwas schiefläuft, muss man trotzdem anerkennen, dass man sein Bestes für den Patienten getan hat.

Prof. Dr. Ling Feng

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Der Podcast „ZEISS Beyond Talks“ ist eine Interviewreihe mit führenden Wissenschaftlern, bekannten Künstlern und ZEISS Experten aus aller Welt, die wichtige Meilensteine umspannt. Alle Beiträge suchen Antworten auf die Frage: Wie können wir die Grenzen der Vorstellungskraft herausfordern?

Haben sich die Neurowissenschaften im Laufe der Jahre Ihrer Meinung nach verändert?

Durch Fortschritte in Wissenschaft und Technologie wissen wir heute so viel mehr als damals, als ich angefangen habe. Früher haben wir vor Operationen mit zwar begründeten, im Detail jedoch unsicheren Vermutungen gearbeitet. Jetzt haben wir die Magnetresonanztomographie (MRT), die Computertomographie (CT) und andere bildgebende Verfahren, die wir sowohl vor als auch während einer Operation einsetzen können.

Mit der MRT können wir das Innere des Gehirns darstellen und durch die sogenannte funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ist es inzwischen sogar möglich, die Aktivität des Gehirns abzubilden. Unterschiedliche Signale zeigen Gedanken, Sinneswahrnehmungen und vieles mehr an. Indem wir diese analysieren, können wir besser verstehen, wie das Gehirn einer Person arbeitet.

Unsere Hauptaufgabe in der Neurochirurgie ist die operative Behandlung von Verletzungen des Gehirns. Aber inzwischen stehen uns auch noch andere Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, beispielsweise die interventionelle Neuroradiologie. Dabei erreichen wir das Gehirn des Patienten über einen Katheter, den wir über die Oberschenkelarterie einführen.

Neurochirurgie ist filigrane Feinstarbeit, weshalb wir mit Mikroskopen arbeiten, um Ansichten vergrößern und erfolgreich operieren zu können. Einige Gefäße im Kopf sind weniger als einen Millimeter breit. Trotzdem können Sie im tiefsten Bereich des Gehirns stark bluten. Manchmal braucht man bis zu zwei Stunden, um die Blutung eines winzigen Gefäßes zu stoppen.

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft der Neurowissenschaften aus?

Wir werden verstärkt auf künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und Big Data zurückgreifen. Diese Dinge werden auf vielfältige Weise unser Leben verändern, nicht nur in den Neurowissenschaften.

Heute gehen wir erst zum Arzt, wenn wir ein gesundheitliches Problem haben. In Zukunft werden aber eher das ambulante Monitoring des Gesundheitszustandes und die Präventionsmedizin im Vordergrund stehen. So können wir Auffälligkeiten erkennen, bevor sie zum gesundheitlichen Problem werden. Wir werden krankhafte Veränderungen im Bereich des Gehirns also bereits im sehr frühen Stadium entdecken können.

Prof. Dr. Ling Feng, Neurochirurgin und stellvertretende Direktorin des China-INI in Peking

In Zukunft werden eher das ambulante Monitoring des Gesundheitszustandes und die Präventionsmedizin im Vordergrund stehen.

Prof. Dr. Ling Feng

Neurochirurgin und stellvertretende Direktorin des China-INI in Peking

Vielleicht werden wir eines Tages überhaupt kein Skalpell mehr brauchen. Vielleicht reichen dann bestimmte Medikamente oder wir injizieren einen Nanobot, der das Problem löst. Diese innovativen Technologien wecken auch neue Hoffnungen bei Erkrankungen wie Autismus und Depressionen. Ich denke, wir haben eine sehr gute Zukunft vor uns.

Ganz entscheidend ist jedoch, dass wir der jungen Generation von Ärzten nicht nur die wissenschaftliche und technologische Seite des Berufs beibringen, sondern auch die menschliche Seite aufzeigen. Als Arzt oder Ärztin ist Empathie gegenüber den Patienten eine Schlüsselkompetenz.

Prof. Dr. Ling Feng, Neurochirurgin und stellvertretende Direktorin des China-INI in Peking

Als Arzt oder Ärztin ist Empathie gegenüber den Patienten eine Schlüsselkompetenz.

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Über das China-INI

Das China International Neuroscience Institute (China-INI) in Peking ist ein Medizin-, Forschungs- und Wissenschaftszentrum für internationale Neurowissenschaften. Das Gebäude, in dem das Institut seinen Sitz hat, wurde dem deutschen International Neuroscience Institute in Hannover nachempfunden.

Making-of

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    Das Interview wurde zur besseren Verständlichkeit bearbeitet.