Interview mit Lila Tretikov, stellvertretende CTO bei Microsoft.
ZEISS Beyond Talks

Interview mit Lila Tretikov, stellvertretende CTO bei Microsoft1

Lila Tretikov ist stellvertretende CTO bei Microsoft. Sie spricht mit uns darüber, wie mehr Frauen für technische Berufe gewonnen werden können, und erklärt, warum Fantasie die wichtigste Ressource für die Gestaltung unserer Zukunft ist.

Seit über 175 Jahren stellt man sich bei ZEISS die Frage: Wie können wir die Grenzen der Vorstellungskraft herausfordern? Diese Vision war für ZEISS der Anlass, in der Gesprächsreihe ZEISS Beyond Talks den Austausch mit Vordenkern und führenden Intellektuellen aus der ganzen Welt zu suchen und mit ihnen über ihre Arbeit, ihre Visionen, ihre Leidenschaften und aktuelle Fragen im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung unserer Welt zu sprechen.

  • Interview (11:42 Min.)

Vor einigen Jahren wurden Sie vom US-Wirtschaftsmagazin Forbes auf die Liste der „100 mächtigsten Frauen der Welt“ gewählt. Wie sehen Sie die Bedeutung von weiblichen Vorbildern in der Technologiebranche?

Am Beginn meines Berufslebens war mir nicht klar, wie wichtig Vorbilder sind. Inzwischen habe ich im Laufe meiner Karriere bestimmt mehr als 100 Frauen begleitet. Wenn Sie vor einer Herausforderung stehen, ist es gut zu wissen, dass jemand anders eine ähnliche Herausforderung bereits erfolgreich gemeistert hat und im Leben weitergekommen ist.

Mein ganzer Dank gilt den Frauen, die vor mir kamen. Frauen leisten seit Jahrhunderten Großartiges, nur wurden sie in der Vergangenheit dafür nicht besonders gewürdigt. Ohne diese Frauen wäre mein Leben so nicht möglich. Es wäre völlig anders verlaufen.

Ich glaube, dass es für Frauen wirklich wichtig ist, die Erfolge anderer Frauen zu sehen. Das ist besonders in den Computerwissenschaften von Bedeutung, denn aktuell entscheiden sich weniger Frauen für einen IT-Beruf als noch vor 20 Jahren. Wir stehen vor einer großen Herausforderung.

Deshalb müssen wir ein attraktives Umfeld schaffen, das Frauen anzieht – auch wenn es Risiken gibt. Ich habe mehrfach mein Arbeitsgebiet gewechselt und bin in ein anderes Land gezogen. Das war zwar immer mit Risiken verbunden, aber es hat sich gelohnt. Wir alle kennen doch den Moment in unserem Leben, in dem wir das Gefühl haben, alles in- und auswendig zu kennen. Genau dann ist es an der Zeit, ein Risiko einzugehen und etwas Neues auszuprobieren.

Lila Tretikov, stellvertretende CTO bei Microsoft.

Ich glaube, dass es für Frauen wirklich wichtig ist, die Erfolge anderer Frauen zu sehen.

Lila Tretikov

Stellvertretende CTO bei Microsoft
ZEISS Beyond Talks Podcast
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ZEISS Beyond Talks

The Podcast

Der Podcast „ZEISS Beyond Talks“ ist eine Interviewreihe mit führenden Wissenschaftlern, bekannten Künstlern und ZEISS Experten aus aller Welt, die wichtige Meilensteine umspannt. Alle Beiträge suchen Antworten auf die Frage: Wie können wir die Grenzen der Vorstellungskraft herausfordern?

Was sind Ihrer Meinung nach die derzeit spannendsten Themenfelder im Bereich Technologie?

Unser größtes Veränderungspotenzial besteht im Moment darin, Biologie, IT, Chemie und Physik zusammenzubringen, um die Zukunft der Gesundheit zu gestalten. Das ist in der Technologie die derzeit vielversprechendste Herausforderung.

Wir erforschen zum Beispiel aktuell das Verhalten von Molekülen und nutzen dabei künstliche Intelligenz. Wenn es uns gelingt, dies in großem Maßstab zu tun, können wir wirklich komplexe Probleme lösen. Das wird uns beispielsweise auf dem Gebiet der Immunologie helfen, indem wir verstehen, wie wir bestimmte Wirkstoffe und Medikamente für einige der weltweit schlimmsten Erkrankungen entwickeln können.

Im Prinzip entschlüsseln wir den menschlichen Körper und verbessern gleichzeitig unsere Fähigkeit, ihn quasi neu zu programmieren. Das ist Spitzentechnologie – und das finde ich extrem spannend!

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Den Begriff „Spitzentechnologie“ hört man häufig. Was beinhaltet er aus Ihrer Sicht?

Viele glauben, Spitzentechnologie ist die neueste Kamera oder irgendein anderer Konsumartikel. Für mich beinhaltet dieser Begriff wissenschaftliche Erkenntnisse, die so neu sind, dass sie noch nicht in konkrete Produkte umgesetzt werden können. Wenn dann der Übergang von der Wissenschaft zum Produkt gelingt – das ist Spitzentechnologie.

Das könnte auf dem Gebiet der Klimaforschung beispielsweise eine Lösung zum Entfernen von CO2 aus der Atmosphäre sein. Oder das könnte künstliche Intelligenz sein, die so in unseren Alltag integriert wird, dass bezahlbare Lösungen entstehen, die dem Menschen helfen.

In Zukunft wird jedes Unternehmen in irgendeiner Weise auf Technologie ausgerichtet sein. Ich glaube, dass so gut wie alle Branchen stark auf Technologie angewiesen sein werden. Ob Schriftsteller oder Wissenschaftler – sie alle werden für ihre Arbeit Technologie nutzen. Das hat enorme Vorteile, aber natürlich dürfen wir auch die möglichen Nachteile nicht übersehen.

Wie unterstützt Technologie Ihrer Meinung nach die Work-Life-Balance?

Wenn es um die Work-Life-Balance geht, also den Einklang von Arbeits- und Privatleben, müssen wir anerkennen, dass Technologie dabei eine wichtige Rolle spielt – und diese Rolle kann positiv oder negativ sein. Mit all unseren wunderbaren digitalen Geräten können wir unglaublich produktiv sein. Gleichzeitig aber sehen wir auch eine Zunahme an kognitiver Belastung, negativem Stress, Unzufriedenheit und Unterbrechungen.

Für uns als Technologieunternehmen muss eines unserer Ziele darin bestehen, die kognitive Belastung zu reduzieren. Wenn wir Menschen dabei helfen wollen, effektiver zu arbeiten, geht es vor allem darum, sie von Störungen, Unterbrechungen und eintönigen Aufgaben im Arbeitsalltag zu befreien. Derzeit dient der Mensch noch zu oft der Technologie, nicht die Technologie dem Menschen.

Künstliche Intelligenz kann uns dabei unterstützen, das umzukehren. Dadurch werden wir mehr Zeit haben, die wir für Inspiration, Kreativität und Innovation nutzen können.

Lila Tretikov, stellvertretende CTO bei Microsoft.

Unser größtes Veränderungspotenzial besteht im Moment darin, Biologie, IT, Chemie und Physik zusammenzubringen, um die Zukunft der Gesundheit zu gestalten.

Lila Tretikov

Stellvertretende CTO bei Microsoft

Wie würde die Technologiebranche von mehr Kreativität profitieren?

Um Kreativität zu fördern, sollten wir stärker darauf achten, verschiedene Disziplinen und Denkweisen zu mischen. In vielen Technologieunternehmen findet man unglaublich viele studierte Informatiker, aber nicht eine Person aus einer anderen Disziplin.

Wir müssen aber auch mit kreativen Professionen zusammenarbeiten, denn sie können uns helfen, Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Nehmen Sie beispielsweise Jules Verne, den erfolgreichen Autor futuristischer Romane. Vor 150 Jahren entwarf er seine Vision von Unterwasserbooten, die inzwischen längst Realität sind. Science-Fiction ist für uns sehr wichtig, denn die Schöpfer dieser Geschichten denken über die Grenzen unserer heutigen Technologie hinaus.

Nehmen Sie das berühmte Zitat von Henry Ford: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.“ Und jetzt haben wir das Auto und den Verbrennungsmotor. Ford dachte über die Grenzen seiner Zeit hinaus. Das nennen wir „Design Thinking“.

Es ist wichtig, diese kreativen Ideen ernst zu nehmen und sie mithilfe von Technologie und Wissenschaft Realität werden zu lassen. Damit legen wir die Messlatte sehr hoch, aber schließlich muss man im Leben Ziele haben.

Dann ist natürlich auch der wirtschaftliche Aspekt entscheidend, denn ansonsten wird sich das, was wir erfinden, nicht durchsetzen. Jede Entwicklung muss wirtschaftlich tragbar und letztlich auch verantwortungsvoll sein. Deshalb müssen wir immer auch auf die strategische Umsetzbarkeit achten.

Lila Tretikov, stellvertretende CTO bei Microsoft.

Wir müssen aber auch mit kreativen Professionen zusammenarbeiten, denn sie können uns helfen, Ideen für die Zukunft zu entwickeln.

Lila Tretikov

Stellvertretende CTO bei Microsoft

Was dürfen wir Ihrer Vorstellung nach von der Zukunft erwarten?

100 Jahre in die Zukunft zu denken, ist ein faszinierender Gedanke, weil wir uns so schnell weiterentwickeln. Hätten Sie jemandem vor 100 Jahren ein Mobiltelefon gezeigt, er hätte es für reine Science-Fiction oder gar Magie gehalten. Jetzt reden wir von Reisen ins All oder zu anderen Planeten. In den letzten 50 Jahren hat die Menschheit gewaltige Fortschritte gemacht. Die Entwicklung verlief schnell, doch das aktuelle Tempo ist noch wesentlich schneller.

Ich denke, wir werden die auf Silizium und Mechanik basierenden Technologien, die wir bereits haben, immer wieder neu erfinden. Und wie bereits erwähnt, werden wir auch den menschlichen Körper neu entdecken. Ich glaube, dass sich in der Medizin in den nächsten 100 Jahren vieles grundlegend zum Besseren verändern wird. Dann werden wir gesundheitliche Probleme beseitigen und Krankheiten heilen können, bei denen uns das heute noch nicht möglich ist.

Außerdem hoffe ich, dass die Menschheit klug genug ist, sich in eine andere, positive Richtung zu entwickeln, um die Schäden an unserer Umwelt zu korrigieren. Wir können KI so nutzen, dass sie nicht zerstörerisch wirkt, sondern uns hilft. Hoffentlich verstehen wir die Welt, in der wir leben, gut genug, um diese Technologie nicht in eine negative Richtung zu lenken.

Wenn wir uns nicht von unseren niederen Instinkten leiten lassen, steht uns meiner Meinung nach eine großartige Zukunft bevor. Es gibt viel zu tun, um all die Probleme zu beheben, die der Mensch sich selbst geschaffen hat. Doch wenn uns das gelingt, werden die nächsten 100 Jahre fantastisch werden. Ich freue mich darauf, so viel wie möglich davon mitzuerleben.

Making-of

  • Making-of Lila Tretikov, stellvertretende CTO bei Microsoft

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    Das Interview wurde zur besseren Verständlichkeit bearbeitet.