Interview mit Robert F. Spetzler, Neurochirurg
ZEISS Beyond Talks

Interview mit dem Neurochirurgen Dr. Robert Spetzler1

Neurochirurg Dr. Robert Spetzler ist der Wegbereiter eines Operationsverfahrens, bei dem ein Herzstillstand durch Unterkühlung herbeigeführt wird, um Verletzungen im Gehirn behandeln zu können. Mit uns sprach er über die Höhen und Tiefen eines Lebens am Rande des medizinisch Möglichen.

Seit über 175 Jahren stellt man sich bei ZEISS die Frage: Wie können wir die Grenzen der Vorstellungskraft herausfordern? Diese Vision war für ZEISS der Anlass, in der Gesprächsreihe ZEISS Beyond Talks den Austausch mit Vordenkern und führenden Intellektuellen aus der ganzen Welt zu suchen und mit ihnen über ihre Arbeit, ihre Visionen, ihre Leidenschaften und aktuelle Fragen im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung unserer Welt zu sprechen.

Sie haben Ihre Facharztausbildung zum Neurochirurgen 1979 abgeschlossen – können Sie beschreiben, welche Bedeutung dieser Beruf für Ihr Privatleben hatte?

Mit der Neurochirurgie ging für mich ein Traum in Erfüllung. Sie ist meine große Leidenschaft. Aber sie verlangt mir auch viel ab!

Man kann nicht Nein sagen, wenn um 2 Uhr nachts ein Anruf kommt und das Leben eines Patienten von einem abhängt. Man kann auch nicht Nein sagen, wenn man eigentlich etwas anderes vorhatte. Das betrifft nicht nur mich persönlich, sondern ist auch sehr schwer für alle in meinem Umfeld. Sämtliche Pläne können plötzlich über den Haufen geworfen werden.

Robert F. Spetzler, Neurochirurg

Angesichts eines Patienten mit einem schwerwiegenden Problem stellen Sie sich vor, dort läge ein geliebter Mensch.

Robert F. Spetzler

Neurochirurg

Wie bereitet man sich mental auf einen schwierigen Eingriff vor?

Mit dem Stress in der Neurochirurgie kann man unterschiedlich umgehen. In der Nacht vor einer schwierigen Operation schlafe ich nicht. Stattdessen gehe ich alle möglichen Komplikationen im Kopf durch, die man sich nur vorstellen kann.

Angenommen für das Problem des Patienten gibt es keine gute Lösung. Darüber denke ich dann immer und immer wieder nach, und manchmal habe ich um 2 oder 3 Uhr nachts eine Eingebung. Eine Idee, wie es doch mit weniger Gefahr gelingen kann, das scheinbar Unmögliche zu erreichen.

Angesichts eines Patienten mit einem schwerwiegenden Problem stellen Sie sich vor, dort läge ein geliebter Mensch. Wenn ich etwas für mich selbst und meine Liebsten tun würde, dann habe ich auch alles Recht der Welt, es für andere zu tun. Besonders wichtig ist Empathie, sich bewusst zu sein, dass die Patienten überwältigt sind von der Situation.

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Der Podcast „ZEISS Beyond Talks“ ist eine Interviewreihe mit führenden Wissenschaftlern, bekannten Künstlern und ZEISS Experten aus aller Welt, die wichtige Meilensteine umspannt. Alle Beiträge suchen Antworten auf die Frage: Wie können wir die Grenzen der Vorstellungskraft herausfordern?

Sie sind Experte für die Behandlung von Aneurysmen. Können Sie uns erklären, was das ist, und einige Beispiele nennen?

In der Neurochirurgie haben wir mit Problemen zu tun, die ich gerne am Beispiel von Autoreifen erkläre. Wenn früher ein Autoreifen nicht in Ordnung war, hat er eine Beule bekommen. Durch den Reifendruck im Inneren wurde die Beule immer größer. Irgendwann hat der Reifen dem Druck nicht mehr standgehalten und ist geplatzt.

Etwas Ähnliches kann in unseren Blutgefäßen passieren. Das Herz pumpt unser Blut mit viel Druck durch den Körper, wodurch es zu Verschleiß an den Gefäßwänden kommen kann. Es gibt kleine aufgeweitete Schwachstellen, die hervortreten. Diese bezeichnet man als Aneurysmen. Ich habe mehr Aneurysmen operiert als irgendjemand sonst auf der Welt!

Eine besondere Herausforderung sind die großen Aneurysmen tief im Hirn. Diese waren früher kaum behandelbar. Doch je größer ein Aneurysma wird, desto höher wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass es reißt und großen Schaden anrichtet. Rupturiert ein Aneurysma, sterben mehr als die Hälfte der Betroffenen. Mehr als die Hälfte derjenigen, die überleben, erholt sich nicht vollständig. Ein geplatztes Aneurysma kann also wirklich verheerende Folgen haben.

Um Zugang zu solchen Aneurysmen tief im Hirn zu bekommen, verwenden Sie eine bahnbrechende Methode. Können Sie uns diese Methode beschreiben?

Um Blutgefäße zu erreichen, die nicht gut zugänglich sind, arbeiten wir unter anderem mit einer Methode, die sich „hypothermic cardiac standstill“ nennt. Wir führen also einen Herzstillstand durch Unterkühlung herbei. Dazu werden unter Narkose-Katheter in Arterien und Venen eingeführt und eine Herz-Lungen-Maschine wird angeschlossen.

Als nächstes muss der Patientenkörper heruntergekühlt werden. Bei einer Körpertemperatur von um die 30 Grad Celsius hört das Herz auf zu schlagen. Zu diesem Zeitpunkt kommt die Herz-Lungen-Maschine zum Einsatz. Sie pumpt das Blut durch die Gefäße. Erreicht der Körper die Zieltemperatur – 14 oder 15 Grad Celsius – kann man die Maschine ausschalten und die Blutgefäße entleeren.

Dadurch steht die Ausbeulung nicht mehr unter diesem großen Druck und fällt ein. Durch das Entleeren gewinnen wir an Handlungsspielraum und können fatale Schäden behandeln, für die es sonst keine andere Option gibt. Das Verfahren birgt noch immer ein hohes Risiko für den Patienten. Doch die Prognose ist so viel günstiger als ohne den Eingriff.

Obwohl ich ihn schon sehr häufig vorgenommen habe, ist es jedes Mal wieder unglaublich. Keine Hirnwellen, kein Puls, keine Atmung – die Patienten sind nach allen Definitionen tot. Außer dass sie so abgekühlt sind, dass sie wiederbelebt werden können.

Prof. Robert Spetzler, Neurochirurg

Eine schwierige Operation kann durch eine Robotiklösung viel sicherer und einfacher werden.

Robert F. Spetzler

Neurochirurg

Von welchen Fortschritten konnten Sie im Laufe der Zeit darüber hinaus besonders profitieren?

In jüngster Zeit hat unser Fachgebiet durch den technologischen Fortschritt einen wahren Umbruch erlebt.

Es ist noch nicht lange her, da wurden Hirnschäden diagnostiziert, indem am Rücken Luft in die Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit injiziert wurde. In einem speziellen Stuhl konnte der Patient in alle Richtungen gedreht werden, sodass die Luft in den Kopf gelangte. Dann konnte mithilfe von Röntgenaufnahmen festgestellt werden, ob es irgendwo eine Verformung gab. Es kam mittelalterlichen Foltermethoden gleich und war für Patienten so schmerzhaft, dass sie sich in der Regel wiederholt übergeben mussten. Doch das Verfahren bot die einzige Möglichkeit, eine Diagnose zu stellen.

Dann hielten die Computertomographie und die Magnetresonanztomographie Einzug, besser bekannt als CT und MRT. Jetzt erhalten wir tiefe Einblicke ins Hirn. Wir können Blutgefäße betrachten, ohne das Risiko von Komplikationen eingehen zu müssen, und wir können die Bildgebung mehrfach wiederholen.

Prof. Robert Spetzler, Neurochirurg

All diese verschiedenen Bereiche im Gehirn erkennen wir erst, wenn wir ganz genau hinschauen – und wir sehen noch längst nicht alles.

Robert F. Spetzler

Neurochirurg

Welche Rolle spielt die Robotik in der Neurochirurgie, und wie sehen Sie die Entwicklungen in diese Richtung?

Der Einsatz von Robotern wird unsere Arbeit revolutionieren, genau wie es in der Industrie bereits der Fall ist. Roboter ermüden nicht. Es ist für sie nicht relevant, ob ein Instrument leicht oder schwer ist. Ob ein Eingriff extrem lange dauert. Eine schwierige Operation kann durch eine Robotiklösung viel sicherer und kleiner werden. Und diese Roboterlösungen mit all ihren Vorteilen werden in den kommenden Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen.

Wie haben sich unser Bild vom Gehirn und die technologischen Verfahren in der Hirnforschung über die Jahre gewandelt?

Wer davon ausgeht, dass wir die Funktionsweise des Gehirns voll und ganz verstanden haben, der ist grob vereinfachend unterwegs.

Es gab eine Zeit, da gingen wir davon aus, dass wir 80 % unseres Gehirns in Wirklichkeit nicht brauchen. Dass man sogar die Frontallappen entfernen kann, und dass dann immer noch ein Mensch vor einem sitzt, der gut ohne sie zurechtkommt. Doch bei genauerem Hinsehen stellen wir fest, dass alle Bereiche im Hirn wichtige Funktionen übernehmen. Sehr unauffällig, aber raffiniert. Die Wertschätzung von Musik. Die Fähigkeit zum Träumen. Die Ursache von Depressionen usw. All diese verschiedenen Bereiche im Gehirn erkennen wir erst, wenn wir ganz genau hinschauen – und wir sehen noch längst nicht alles.

Führen wir uns etwa vor Augen, dass sich jetzt Elektroden an das Gehirn anlegen lassen. Soll zum Beispiel im Fall einer Lähmung eine Armbewegung ausgeführt werden, kann das entsprechende Signal mithilfe von Elektroden erfasst werden. Der Computer kann den gelähmten Bereich dann über einen elektrischen Impuls so anregen, dass die Bewegung stimuliert wird.

Das können wir tatsächlich schon heute. Aktuell sind das rudimentäre Ansätze, aber wenn man anstelle von nur 16 Elektroden irgendwann eine Milliarde zur Verfügung hat, kann eine derartige Bewegung sicher sehr exakt ausgeführt werden.

  • Robert Spetzler Making-of
  • Robert Spetzler Making-of

Wie weit werden wir auf unserer Suche nach immerwährender Gesundheit mithilfe des technologischen Fortschritts gehen können?

Zellen sind auf eine bestimmte Lebensdauer programmiert. Können wir dieses Programm ändern – und irgendwann gelingt uns das sicher – wird unser „Problem“ sein, dass die Menschen nicht mehr sterben. Das bringt eine Menge großer Herausforderungen mit sich, die uns ganz schön zusetzen werden.

Vergleichen wir das mit dem Thema Abtreibung. Das wird heute in der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Beide Seiten bewegen starke Überzeugungen. Jetzt stellen wir uns vor: Onkel Mark ist 180 und führt den Familienbetrieb bis heute. Wenn wir ihn biologisch am Leben halten können, wann ist seine Zeit gekommen und wer trifft diese Entscheidung?

Könnten Sie uns zum Schluss verraten, was angesichts der vielen Herausforderungen der Antrieb für Ihr ungebrochenes Engagement war?

Heute ist die Lebenserwartung eine andere und auch die Operationsergebnisse sind andere. Trotzdem wird es immer Komplikationen geben. Dadurch behält man die nötige Demut.

In der Neurochirurgie werden einem wahnsinnige Stimmungshochs geschenkt, aber das hält nie lange an. Ziemlich sicher werden Sie schon bald wieder um 2 Uhr nachts aus dem Bett geklingelt, weil ein Patient Blutungen bekommen hat und Sie sofort kommen sollen. Oder Sie müssen der Familie eines Patienten sagen, dass Sie alles getan haben, aber ihm nicht mehr helfen konnten.

Gerne würde ich behaupten, dass es mich mit der Zeit weniger stark mitnahm, wenn ich nicht helfen konnte. Dass ich mich daran gewöhnt habe. Aber das ist nicht so. Der Schmerz, den man empfindet, wenn man jemandem nicht helfen kann – oder sogar Schäden verursacht hat –, sitzt mit 70 ebenso tief wie mit 30 Jahren. Und in gewisser Weise treibt mich dieser große Schmerz bei Fehlschlägen immer wieder an, nach neuen Lösungen und Erfolgen zu suchen.

Über Prof. Robert Spetzler

Dr. Robert Spetzler ist ein renommierter Neurochirurg, der auf zerebrovaskuläre Erkrankungen und Schädelbasistumore spezialisiert ist. Er hat ein Verfahren entwickelt, bei dem zur operativen Behandlung von Hirnschäden ein Herzstillstand durch Unterkühlung herbeigeführt wird.

Dr. Spetzler hat für seine Arbeit zahlreiche Auszeichnungen von Fachgesellschaften erhalten. Unter anderem wurde er im Alter von 49 Jahren als jüngster Preisträger aller Zeiten mit dem Titel „Honored Guest of Congress of Neurological Surgeons“ ausgezeichnet. Auf dem Gebiet der Neurowissenschaft hat er mehr als 300 Fachartikel und 180 Kapitel in Büchern veröffentlicht.


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